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Sensorische Integration: Barfuß durch den Sommer – Wie einfache Sinneserfahrungen Kinder stärken


Der Sommer ist da. Die Wiesen kitzeln unter den Füßen, der Sand ist warm, die Steine pieksen ein wenig – aber genau das gehört dazu. Barfuß zu laufen ist für viele Kinder ein unbeschwertes Erlebnis. Doch was oft wie bloßes Kinderspiel aussieht, ist in Wahrheit viel mehr: eine Einladung an das Nervensystem, die Welt zu begreifen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Was beim Barfußlaufen passiert


Wenn Kinder barfuß über verschiedene Untergründe laufen, passiert in ihrem Körper etwas Faszinierendes: Über Tausende von Rezeptoren in den Fußsohlen nehmen sie Reize auf – kalt, warm, weich, hart, spitz, feucht. Diese Informationen werden im Gehirn verarbeitet und helfen dem Kind, seinen Körper im Raum besser zu spüren. Genau hier setzt das Konzept der Sensorischen Integration an.


Sensorische Integration (SI) ist die Fähigkeit des Gehirns, Sinneseindrücke aus dem eigenen Körper und der Umwelt sinnvoll zu verarbeiten und in Handlung umzusetzen. Sie ist die Grundlage für Motorik, Gleichgewicht, Aufmerksamkeit – und letztlich auch für emotionales Wohlbefinden.


Aus der Therapie in den Alltag


Meine Tochter kam als Pflegekind im Alter von 2 Jahren zu mir, davor hatte sie bereits drei Stationen in ihrem jungen Leben. Nach ca. 1 Jahr wurde sie aus der Ursprungsfamilie in die Krisenpflege gegeben, nach ein paar Monaten in eine weitere Krisenpflegefamilie. In den ersten beiden Lebensjahren fehlten ihr viele grundlegende Erfahrungen, die für Babys eigentlich selbstverständlich sind: getragen werden, krabbeln auf unterschiedlichen Untergründen, Berührung in liebevollem Kontakt. Sie hat ihr erstes Lebensjahr meistens im Innenraum und meistens im Gitterbett verbracht.


Normale Umweltreize fehlten ihr. Daher konnte ihr Gehirn nicht die Verbindungen herstellen, die bei normal stimulierten Säuglingen und Kleinkindern entstehen. Ihr kleiner Körper musste das später nachholen – mit Hilfe von SI-Therapie. Zunächst hielt ich das Konzept der Sensorischen Integration für esoterischen Unsinn und eine unnötig teure Angelegenheit. Warum sollte ich dafür bezahlen, dass meine Tochter im Bällebad herumturnt oder schaukelt? Die Therapeutin erklärte mir jedoch, dass man anhand physischer Anzeichen erkennen kann, dass im frühkindlichen Alter bei meiner Tochter gewisse Erfahrungen nicht gemacht wurden. Beispielsweise konnte sie sich stundenlang drehen, ohne dass ihre Augen die typischen Schwindelanzeichen zeigten.


Das ist zwar sehr laienhaft erklärt, aber ich habe gelernt, dass Sensorische Integration kein abstraktes Therapie-Konzept ist. Sie beginnt ganz im Kleinen – im Alltag, im Spiel, im Sommerregen. Und: Barfußlaufen ist eine sanfte, aber wirksame (und kostengünstige 😉) Möglichkeit, die Sinne zu wecken.


Warum Barfußlaufen Kinder stärkt


  • Taktile Wahrnehmung: Unterschiedliche Oberflächen helfen dem Gehirn, zwischen Reizen zu differenzieren – ein wichtiger Baustein für die Reizverarbeitung.


  • Gleichgewicht und Koordination: Ohne Schuhe müssen Muskeln im Fuß und Bein mehr arbeiten – das stärkt Haltung, Balance und Körperspannung.


  • Propriozeption (=Tiefenwahrnehmung): Kinder lernen, ihre Füße gezielter einzusetzen, spüren ihren Körper intensiver und gewinnen dadurch mehr Selbstsicherheit.


Vor allem Kinder, die sensorisch unter- oder überempfindlich sind, profitieren von diesen Erfahrungen. Natürlich: Nicht jedes Kind liebt es sofort, barfuß zu laufen – besonders dann nicht, wenn das Nervensystem mit Reizen überflutet wird. Aber mit Zeit, Geduld und spielerischem Zugang lässt sich vieles entdecken.


Ideen für barfüßige Sommerabenteuer


  • Einen Barfußpfad im Garten anlegen: mit Sand, Wasser, Steinen, Rinde, Moos.


  • Einen Spaziergang machen – mit „Füße fühlen“-Pause: Was fühlt sich wie an? Welcher Untergrund ist der Lieblingsuntergrund?


  • Im Wald barfuß balancieren – z. B. auf einem liegenden Stamm oder einer Wurzel.


  • Drinnen: Sensorik-Kisten füllen mit Reis, Erbsen, Wolle, Seide oder feuchtem Gras.


Wichtig: Alles freiwillig. Druck ist der größte Feind jeder sinnlichen Erfahrung.


Therapie, die Spaß macht – auch für Kinder ohne Diagnose


Was viele nicht wissen: Auch Kinder ohne konkrete Diagnose profitieren von Aktivitäten, die eigentlich aus der Therapie stammen. Man muss kein Ergotherapeut sein, um einem Kind zu ermöglichen, sich selbst besser zu spüren.


Im Gegenteil: Wenn wir im Alltag Räume schaffen für echte, unverfälschte Sinneserfahrungen – ob im Matsch, im See oder auf einer warmen Sommerwiese – dann machen wir mehr für die kindliche Entwicklung, als viele Förderprogramme je könnten.


Fazit: Barfuß ist mehr als ein Lebensgefühl


Es ist ein Geschenk an das Nervensystem, ein kleiner Schritt zu mehr innerer Stabilität – und oft der erste zu mehr Selbstregulation, Körpergefühl und Selbstvertrauen. Der Sommer bietet die perfekte Bühne dafür.


Lasst uns den Kindern die Schuhe ausziehen – und ihnen die Welt zu Füßen legen!

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