Pflegekind-Serie: Wenn der Körper das Trauma trägt
- Vampirndl
- 9. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Juli
Wie Sensorische Integration Pflegekindern mit schweren Startbedingungen helfen kann

Manche Kinder haben keinen guten Start ins Leben. Sie kommen als Pflegekinder oder durch schwierige Umstände in ihre Familien – und bringen einen Rucksack mit, der oft unsichtbar ist. Ein Rucksack, gefüllt mit Dingen, die sie gar nicht benennen können: Unruhe, Körperspannung, Wut, Rückzug, fehlende Impulskontrolle oder scheinbar „seltsames“ Verhalten.
Was viele nicht wissen: Frühkindliche Traumata setzen sich nicht nur in der Seele, sondern auch im Körper fest. Und genau dort können wir ansetzen – mit Therapieformen, die den Körper mit ins Boot holen. Eine davon ist die Sensorische Integrationstherapie.
Was bedeutet „Sensorische Integration“?
Sensorische Integration (SI) beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, Sinneseindrücke aus dem eigenen Körper und der Umwelt sinnvoll zu verarbeiten und in Handlung umzusetzen. Kinder, die gut „integrieren“, wissen, wo ihr Körper ist, spüren Berührungen angemessen, können sich konzentrieren und sicher durch die Welt navigieren.
Doch bei vielen Pflegekindern ist dieses System durcheinander – durch:
frühe Vernachlässigung (z. B. kaum Berührung, wenig Bewegung, fehlender Blickkontakt)
medizinische Eingriffe (lange Krankenhausaufenthalte, Schmerz ohne Trost)
psychischen Stress (laute Umgebungen, emotionale Unsicherheit, Angst)
körperliche Gewalterfahrungen, Missbrauch
Das Gehirn dieser Kinder reagiert anders auf Reize – es über- oder unterreagiert, verwechselt Signale oder blendet sie ganz aus. Das kann aussehen wie "Verhaltensauffälligkeit" – ist aber oft eine körperliche Reaktion auf ein unsicheres System.
Warum der Körper mitschwingt
Ein Kind, das seinen Körper nicht gut spürt, hat oft Probleme mit:
Gleichgewicht (ständig in Bewegung oder ängstlich beim Klettern)
Schmerzempfinden (merkt Verletzungen kaum oder überreagiert)
Emotionsregulation (Gefühle werden körperlich – als Wutausbruch, Zittern, Rückzug)
Selbstwahrnehmung und Grenzen („überschwemmt“ von Eindrücken, reizoffen oder abgeschaltet)
SI-Therapie setzt genau hier an: am Spüren, Bewegen, Balancieren, Fühlen. Sie ist keine Gesprächstherapie, sondern eine körperorientierte Form des Lernens – durch gezielte Reize, Spiele und Bewegungen.
Welche Therapien helfen Kindern mit Trauma und Wahrnehmungsstörungen?
Es gibt mehrere bewährte körperbezogene Therapien, die Pflege- oder Adoptivkindern helfen können, ihre Sinne, ihren Körper – und damit sich selbst – besser zu integrieren.
1. Sensorische Integrationstherapie (SI) (Wird meist von Ergotherapeut:innen durchgeführ)
Fokus: Sinnesreize gezielt einsetzen (schaukeln, wippen, klettern, berühren).
Ziel: Besseres Körpergefühl, Selbstregulation, Reizverarbeitung.
Wichtig: Die Therapeut:innen sollten traumasensibel arbeiten.
2. Rotatherapie (rotatorische Therapie) (Spezielle Form der Physiotherapie)
Entwickelt für Kinder mit Regulations- oder Wahrnehmungsproblemen.
Nutzt passive Drehbewegungen des Körpers (z. B. auf Drehscheiben), um das vestibuläre System (Gleichgewicht) zu stimulieren.
Wird oft bei Kindern mit AD(H)S, FASD oder Bindungsstörungen eingesetzt.
Ähnelt SI im Ziel (Körperwahrnehmung verbessern), ist aber strukturierter und passiver.
3. Psychomotorik (Bewegung als Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung)
In Gruppen oder Einzelsitzungen.
Hilft bei sozial-emotionalen Problemen, Selbstwert und Körperschema.
4. Traumapädagogik mit Körperfokus (z. B. nach sensomotorischen Konzepten) (pädagogische Arbeit mit gezieltem Körperbezug)
Rituale, strukturierte Körpererfahrungen, Begrenzung und Sicherheit im Raum.
Wichtig z. B. in Heimen oder Pflegefamilien.
5. Sensorische Spieltherapie (In Kombination mit SI oder Psychotherapie)
Kinder verarbeiten durch freies Spiel Reize und innere Zustände.
Materialien wie Sand, Wasser, Knetmasse, Tücher etc. werden gezielt eingesetzt.
Unsere Erfahrung: Der Körper erinnert sich – aber er kann auch heilen
Meine Tochter kam mit wenig Körperbewusstsein in unsere Familie. Anfangs spürte sie wenig – sie hatte eine hohe Schmerztoleranz. Sie kann zB immer noch am Kiesstrand barfuß laufen, ohne Schmerzen zu empfinden. Sie hatte Wutanfälle, zeigte Tendenzen zur Selbstverletzung im Alter von 3 Jahren (!), sie hat teilweise in Konfliktsituationen einfach "abgeschaltet", ins Leere gestarrt und konnte es nur schwer ertragen, körperlich eingeschränkt zu werden, auch wenn es zu ihrer eigenen Sicherheit war (zB Anschnallen im Kindersitz beim Autofahren oder im Kinderwagen. Auch das Umbinden von einem Schal im Winter war anfangs schwierig). Sie konnte sich eine halbe Stunde zur Musik um die eigene Achse drehen, ohne Schwindel zu empfinden. Erst durch die Kombination aus Bindung, Sicherheit und SI-Therapie begann sich etwas zu verändern. Nicht plötzlich, nicht spektakulär. Aber stetig.
Heute weiß sie, wann sie eine Pause braucht, sie kann schwierige Situationen und Konflikte meistern, ohne sich selbst zu verletzen. Sie kann ihre Bedürfnisse und Gefühle mit Worten kommunizieren. Und sie liebt es, barfuß durch den Garten zu laufen – weil sie jetzt fühlt, dass sie da ist.
Fazit: Der Körper ist ein Schlüssel – auch zur Seele
Frühkindliche Traumata sind tiefgreifend. Sie lassen sich nicht allein durch Worte heilen – erst recht nicht bei kleinen Kindern. Der Körper ist oft der erste Ort, an dem das Trauma sitzt – und zugleich der erste Ort, an dem Heilung beginnen kann.
Sensorische Integration und ähnliche Therapien können helfen, das Fundament zu stärken, auf dem Bindung, Lernen und Selbstregulation erst möglich werden.
Denn wenn ein Kind sich selbst spürt, kann es auch andere spüren – und irgendwann: Vertrauen.
Habt ihr auch Erfahrungen mit diesem Thema oder habt ihr Fragen an mich? Ich freue mich auf eure Rückmeldungen! Ein Artikel, der euch auch interessieren könnte:
Wenn ihr mehr erfahren wollt über Sensorische Integration, schaut doch mal hier vorbei: https://www.sensorische-integration.org/sensorische-integration/
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