Pflegekind-Serie: Frühkindliche Traumata und Risikoverhalten – Was Pflege- und Adoptiveltern wissen sollten
- Vampirndl
- vor 6 Tagen
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Eine der großen Sorgen von uns Eltern ist, dass unseren Kindern etwas zustößt. Ich kenne das von mir - bei der ersten schlechten Note fängt bei mir das Kopfkino an. Der Film endet meistens damit, dass meine Tochter tot unter einer Brücke mit der Spritze im Arm landet. Verrückt? Übertrieben? Natürlich ist das eine Horrorvision, die wahrscheinlich nicht eintreffen wird. Gerade bei Pflegekindern oder Kindern mit frühkindlichen Traumata steckt leider ein Körnchen Wahrheit darin. Denn frühkindliche Erfahrungen prägen unser Leben oft stärker, als wir es uns vorstellen können.
Für Pflege- und Adoptivkinder gilt das ganz besonders. Traumatische Erlebnisse wie Vernachlässigung, Missbrauch oder abrupte Trennungen können tiefgreifende Spuren hinterlassen – nicht nur emotional, sondern auch neurobiologisch. Diese frühen Verletzungen können in der Jugend in Form von riskantem Verhalten sichtbar werden: Sucht, Kriminalität oder die Anfälligkeit für extreme Gruppierungen.
Warum Traumata zu Risikoverhalten führen kann
Als Eltern sehen wir oft die Schuld alleine bei uns und unserer Erziehung, wenn unser Kind sich in eine bedenkliche Richtung entwickelt. Die Gründe, aus denen manche Kinder und Jugendliche zu risikoreichem Verhalten neigen, sind jedoch vielfältig und haben nicht alleine mit dem sozialen Umfeld oder unseren Erziehungsmethoden zu tun.
Tatsächlich gibt es drei Bereiche, auf die man schauen muss:
1. Neurobiologische Veränderungen
Frühkindliche Traumata können sich physiologisch auf die Entwicklung des Gehirns auswirken:
Amygdala: Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns, der entscheidend ist für die Entstehung von Angstgefühlen. Wenn dieser Teil Gefahr wahrnimmt, sorgt er im Körper für die entsprechenden Reaktionen (zB Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, Erhöhung des Herzschlags, etc.). Bei traumatisierten Kindern ist die Amygdala überempfindlich, der Körper der Kinder ist in ständiger Alarmbereitschaft.
Frontallappen: Er befindet sich im vorderen Teil des Gehirns hinter der Stirn. Durch psychische Traumata oder durch Kopfverletzungen kann seine Entwicklung beeinträchtigt werden. Er ist verantwortlich für Motorik, Denkprozesse, Sprachentwicklung und Persönlichkeitsentwicklung. Eine Störung der Entwicklung des Frontallappens kann zu einer Reihe von Problemen in diesen Bereichen führen. Häufige Folgen sind eine schwächere Impulskontrolle, geringere Planungsfähigkeit, Antriebslosigkeit, etc.
Stresssystem: Eine Überlastung unseres Stresssystems durch die ständige Ausschüttung des Hormons Cortisol, kann zu einer Vielzahl von körperlichen und psychischen Symptomen führen (zB Magen-Darm Probleme, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Erschöpfung, etc.).
Wenn diese Systeme beeinträchtigt sind, suchen Jugendliche häufig schnelle Wege, um Gefühle zu regulieren. Sie greifen zu Alkohol, Drogen oder nehmen Teil an riskanten Aktionen, um sich zu spüren, sich zu betäuben oder eine kurzfristige Erleichterung herbeizuführen.
2. Psychologische Mechanismen
Frühkindliche Traumata haben nicht nur körperliche Auswirkungen, auch die Psyche wird in Mitleidenschaft gezogen.
Geringes Selbstwertgefühl: Auch wenn es uns Außenstehenden als absurd erscheint - Kinder suchen den Grund für ihre Situation oft bei sich selbst ("ich war nicht brav" oder "meine Eltern haben mich nicht lieb, darum haben sie mich weggegeben"; "ich bin schuld an den Problemen in der Familie und darum darf ich nicht bleiben", etc.).
Bindungsstörungen: Misshandlungen, Missbrauch oder Vernachlässigung können zu Bindungsstörungen führen. Das macht den Aufbau von neuen Vertrauensbeziehungen schwierig.
Gefühlsregulationsprobleme: Diese Probleme zeigen sich durch plötzliche, übertrieben erscheinende Gefühlsausbrüche oder durch das Gegenteil - den plötzlichen kompletten Rückzug.
Impulsivität: Bei diesem Verhalten geht es um Handeln ohne Nachdenken und um mangelnde Impulskontrolle.
Das Verhalten der Kinder wird eine Strategie, um mit ihrem inneren Schmerz umzugehen, um die negativen Gefühle besser ertragen zu können und sich vor weiterem, befürchtetem Schmerz zu schützen.
3. Soziale Einflüsse
Auch das soziale Umfeld, aus dem die Kinder kommen bzw in dem sie sich bewegen, hat einen Einfluss auf ihr Verhalten.
Instabile Lebensverhältnisse: wenn Kinder aus einer schwierigen Ursprungsfamilie kommen, häufige Umzüge erlebt haben oder in unterschiedlichen Krisenpflegefamilien oder Heimen untergebracht waren, sind sie innerlich immer auf dem Sprung und können sich nirgendwo sicher und zu Hause fühlen.
Stigmatisierung durch das Umfeld: nachdem Kinder zB in einer stabilen Pflegefamilie untergebracht wurden, kann es trotzdem weiterhin zu Traumatisierungen kommen, zB durch Stigmatisierung in der Schule (das "Problemkind") oder im Umfeld (das "Pflegekind").
Fehlen von Vorbildern: das Kind hat kein Vorbild, keine Bezugsperson, die es inspiriert und nach der es sich richten kann.
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit kann Jugendliche anfällig machen für gefährliche Gruppierungen (Sekten, extremistische Gruppen, Jugendbanden, toxische Beziehungen). Ich empfehle euch dazu meinen Ratgeber "Liebe ohne Gift", der Jugendlichen und Eltern helfen soll, die Warnzeichen von toxischen Beziehungen zu erkennen.
Hoffnung statt Schicksal
Gibt es für ein traumatisiertes Kind also keine Hoffnung? Natürlich gibt es Hoffnung! An all den oben genannten Schrauben kann man drehen, um die Lebensbahn des Kindes in eine positive Richtung zu lenken!
Ihr könnt eurem (Pflege-)kind eine stabile Umgebung bieten, eine Familie, in der es sich zugehörig fühlt und nicht als "das Pflegekind" oder "das Problemkind", das niemand will. Im Gegenteil - es ist für euch ein besonderes Kind, weil ihr es euch gewünscht und "ausgesucht" habt.
Ich habe meiner (Pflege-)tochter immer gesagt, dass sie wirklich Glück hat, weil sie so viele Menschen lieben, ihre eigenen biologischen Eltern, ihre biologische Familie und dann auch noch ich und meine ganze Familie. Ich habe versucht, ihre Geschichte für sie positiv zu interpretieren, damit sie nicht verinnerlicht, dass sie abgegeben wurde, weil keiner sie wollte.
Ihr könnt euer Kind therapeutisch unterstützen lassen, viele Therapien werden auch von den Jugendämtern finanziell übernommen oder zumindest unterstützt.
Ihr müsst stark sein und immer hinter eurem Kind stehen, es liebevoll und geduldig begleiten und andere in ihre Schranken weisen, wenn sie euer Kind in die Pflegekind-Schublade stecken wollen. Lasst euch nicht einschüchtern vom sogenannten Fachpersonal wie Kindergartenpädagog:innen oder Lehrer:innen - ihr allein seid die Experten für euer Kind. Nehmt die Einschätzungen von außen für euch mit, bewertet sie in Ruhe und beurteilt dann, ob sie eure Realität widerspiegeln oder nur das Stigma weiter befeuern.
Alltags-Tipps
Geduld, bedingungslose Liebe, ein offenes Ohr und ein sicherer Hafen sind für diese Kinder die beste Unterstützung. Für Tipps zum Thema "Gefühlsregulierung bei Kindern" empfehle ich euch meinen Blogartikel.
Viele der oben genannten Probleme kommen in der Pubertät noch einmal verstärkt zurück. Gerade Jugendliche greifen zu Alkohol, Drogen oder geraten in gefährliche Situationen oder in schlechte Gesellschaft. Dann kann es auch sehr herausfordernd sein, an sie heranzukommen und schwierige Themen anzusprechen. Einige Strategien können sein:
Gespräch suchen: drängt eurem Kind kein Gespräch auf, das funktioniert meistens nicht. Schafft Gelegenheiten, bei denen sich euer Kind öffnen kann, zB beim gemeinsamen Kochen, bei einem Spaziergang, auf der Autofahrt.
Seid ehrlich und offen: kein Thema sollte ein Tabu sein! Wenn euer Kind euch nicht fragen kann, sucht es sich jemanden, der ihm Antworten gibt und das sind nicht immer die besten Ratgeber! (Sekten, gefährliche Gruppierungen)
Beteiligung statt Belehrung: fragt euer Kind, ob es eine Idee hat, was ihm/ihr helfen könnte. Wie stellen sie sich Unterstützung vor?
Therapie normalisieren: eine Therapie zu beginnen, ist kein Zeichen für Schwäche oder dafür, "dass irgendwas nicht in Ordnung ist". Im Gegenteil, es ist ein Zeichen für Stärke, sich Hilfe zu holen. Einen Therapeuten aufzusuchen ist genauso normal, wie der Besuch beim Zahnarzt. Lasst euer Kind mitentscheiden, welche Therapie es machen möchte.
Vorbildfunktion: lebt eurem Kind vor, dass es normal ist, über Gefühle zu sprechen, dass es okay ist, zu weinen, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn man sich Hilfe sucht.
Fazit
Eine Kinderpsychologin hat mir einmal gesagt "nur weil die Kindheit schlecht war, muss das nicht bedeuten, dass das ganze Leben schlecht sein wird". In diesem Satz steckt viel Wahrheit - auch wenn die Startbedingungen eures Kindes nicht ideal erscheinen, kann es mit eurer Hilfe und mit Hilfe eines liebevollen und stabilen Umfelds ein glückliches und gesundes Leben führen.
Ich schließe mit den Worten eines modernen Helden, Arnold Schwarzenegger: "Stärke kommt nicht von Gewinnen. Du wächst an Deinen Herausforderungen. Wenn du auf Widerstände triffst und dich entscheidest dranzubleiben, das ist Stärke."
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