Amoklauf und emotionale Vernachlässigung: Wir hören nicht hin – bis es zu spät ist
- Vampirndl
- vor 7 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
Ein Amoklauf erschüttert vor Kurzem Graz – doch statt Schuldzuweisungen brauchen wir eine neue Haltung: Mehr Nähe. Mehr Zuhören. Vor allem bei unseren Söhnen.

Nach dem Amoklauf an einer Schule in Graz bleibt nicht nur Trauer zurück. Sondern auch Fragen. Viele Fragen.
Und eine, die mich seit Tagen nicht loslässt:
Wie kann es sein, dass ein Kind – ein Jugendlicher – so lange unbeobachtet leidet, bis nur noch Zerstörung bleibt?
Ich will in diesem Beitrag gar nicht auf diese spezifische Tat selbst eingehen. Ich will keine Schuldzuweisungen machen, weder an die Mutter, noch an die Schule oder an das Umfeld. Ich will mich auf das konzentrieren, was davor kommt. Auf die Zeit, in der noch alles hätte anders laufen können. Die Phase, in der ein Kind vielleicht leise schreit – und niemand hinhört.
Wir sehen unsere Kinder – aber sehen wir wirklich hin?
Viele Eltern sind gute Eltern. Sie versorgen, organisieren, strukturieren. Die meisten Eltern haben nur das Beste für ihre Kinder im Sinn. Aber was Kinder brauchen, ist nicht nur die materielle Versorgung. Sie brauchen Begleitung. Menschen, die hinschauen, wenn sich etwas verändert. Die nicht erst reagieren, wenn es zu spät ist. Kinder emotional zu begleiten, kann wesentlich herausfordernder sein, als die materielle Versorgung sicherzustellen.
Wenn Kinder zu Jugendlichen werden, gehen wir davon aus, dass sie nicht mehr soviel Aufmerksamkeit brauchen, weil sie schon auf der Zielgerade zum Erwachsensein sind. Aber das Gegenteil ist der Fall: besonders in dieser Phase benötigen sie unsere Aufmerksamkeit. Sie benötigen unsere Unterstützung dabei, sich in unserer Gesellschaft zurechtzufinden. Sie benötigen unsere Unterstützung dabei, ihre Gefühle einzuordnen, ihre Enttäuschungen und Verletzungen zu überwinden, ihre Frustration zu kommunizieren.
War meine Erziehung immer perfekt? Mit Sicherheit nicht! Aber wenn meine Tochter sich plötzlich im Zimmer einschließen würde, nichts mehr essen würde oder drastisch ab- oder zunehmen würde – würde ich das bemerken. Meine Tochter ist nicht angepasst, sie hatte in den letzten Jahren schulische Probleme sie musste im Freundeskreis mit Enttäuschungen klarkommen, sie hatte einen Trauerfall zu bewältigen, sie kam mit Drogen in Kontakt.
Warum konnten wir diese Schwierigkeiten meistern und haben immer noch ein herzliches, liebevolles Verhältnis? Nicht, weil ich perfekt bin oder weil ich zu Hause mit Härte durchgegriffen habe. Sondern, weil ich da bin. Weil ich hinschaue und weil ich immer die Kommunikation offen gehalten habe.
Und genau das frage ich mich nach solchen Tragödien: Wie kann es sein, dass niemand etwas bemerkt? Wie kann es sein, dass die Eltern, die Lehrer, die Vertrauensperson, die Freunde, die Veränderungen nicht bemerken?
Oder noch schlimmer: Dass man sie bemerkt – aber nichts unternimmt?
Warum besonders Jungen gefährdet sind
Wir tendieren heutzutage dazu, keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu machen. Und meistens ist das eine gute Entwicklung. Es ist jedoch wissenschaftlich erforscht, dass Jungen in diesem Fall besonders gefährdet sind. Das hat einerseit soziale, andererseits auch biologische Gründe.
Mädchen sind so sozialisiert, dass sie sich leichter tun, über Emotionen zu sprechen. Sie schreiben Tagebuch, sie lassen Tränen zu, reden mit Freundinnen. Sie verarbeiten ihre Gefühle und Frustrationen innerlich und sozial.
Jungen dagegen ziehen sich häufig zurück, werden wütend, zocken stundenlang. Vermeiden Gespräche. Und wir Erwachsenen wischen das Problem oft mit dem bequemen Überbegriff „Pubertät" weg.
Aber was viele nicht wissen:
Das Gehirn junger Männer entwickelt sich langsamer. Vor allem der Teil, der für Impulskontrolle, Selbstreflexion und soziale Einsicht verantwortlich ist – der präfrontale Kortex. Dieser ist oft erst mit Mitte 20 vollständig ausgereift.
Das heißt: Jungs denken kurzfristiger. Sie handeln impulsiver. Und wenn dann noch emotionale Sprachlosigkeit und gesellschaftlicher Druck dazukommen, entsteht ein gefährlicher Cocktail: Gefühle, die niemand auffängt. Und die irgendwann explodieren.
Alte Rollenbilder brechen unsere Jungen
Die biologischen Tatsachen, dass die Entwicklung des präfrontalen Kortex erst später abgeschlossen ist, können wir nicht beeinflussen. Wir können jedoch endlich alte Rollenbilder auflösen und die emotionale Entwicklung unserer männlichen Jugendlichen in gesunde Bahnen lenken.
Wie oft hört man Sätze wie:
„Ein echter Mann weint nicht.“
„Reiß dich zusammen.“
„Hör auf, so sensibel zu sein.“
Und das sind noch die harmloseren Sätze... Aber was passiert mit einem Jungen, der traurig ist, der emotional überfordert, frustriert oder unsicher ist? Wenn er von klein auf gelernt hat, dass das nicht sein darf?
Dann bleiben ihm nur: Rückzug, Isolation, Aggression oder Abstumpfung.
Es ist Zeit, diese Rollenbilder zu beenden. Unsere Jungen müssen wissen: Du darfst fühlen. Du darfst Schmerz zeigen. Du darfst zweifeln. Du darfst weich sein. Und du darfst reden.
Was wir tun können – als Eltern, Lehrer*innen, Gesellschaft
Leider trägt unser Schulsystem dazu bei, dass wir ein erfolgreiches Leben unserer Kinder an den Schulnoten messen. Dass wir uns größere Sorgen um die Zahlen machen, die am Ende des Schuljahres auf dem Zeugnis stehen, als um das Innenleben unserer Kinder. Wir fragen öfter nach den Schulnoten, als unsere Kinder zu fragen, ob sie sich wohlfühlen in der Schule, wie ihr Tag war, ob alles ok ist im Freundeskreis.
Im Freundeskreis meiner Tochter beobachte ich, dass gerade die Jugendlichen häufig wenig Unterstützung durch ihre Eltern erfahren. Oft sind die Eltern geschieden, überfordert, haben psychische Krankheiten oder lösen ihre Probleme mit Alkohl. Oder sie befassen sich, aus welchen Gründen auch immer, lieber mit sich selbst als mit dem Seelenleben ihrer Kinder. Wenn die Kinder größer werden, nicht mehr so niedlich sind, und sich zu Hause Reibereien ergeben, werden die Jugendlichen mit ihren Problemen und Herausforderungen alleine gelassen und müssen ihre Lösungen selbst finden.
Wenn sie Glück haben, finden sie wohlmeinende Erwachsene in ihrem Umfeld, die ihnen zur Seite stehen können. Oder sie haben einen gesunden Rückhalt in ihrem Freundeskreis.
Wenn sie keine Unterstützung haben, suchen sich die Jugendlichen andere Wege, um mit ihren Frustrationen und Verletzungen fertig zu werden. Im schlimmsten Fall kann das zu Aggressionen führen, sich selbst oder anderen gegenüber.
Wie ihr in Kontakt mit eurem Kind bleiben könnt:
Seid da. Auch wenn euer Kind euch abweist. Gerade dann.
Fragt öfter: „Wie geht es dir – wirklich?“
Reagiert nicht mit Lösungen, sondern mit Zuhören.
Nehmt emotionale Veränderungen ernst – auch wenn sie diffus erscheinen.
Lobt emotionale Offenheit. Ermutigt dazu, Gefühle auszudrücken.
Lebt vor, dass es keine Schande ist, Schwäche zu zeigen.
Erinnert euch daran, dass ihr selbst mal in dem Alter wart und wie verwirrend die Zeit für euch war.
Fazit: Nähe ist keine Garantie – aber sie ist unsere stärkste Chance
Wir können unsere Kinder nicht immer und nicht vor allem Übel beschützen. Aber wir können ihnen beistehen, bevor sie innerlich vereinsamen. Wir können zuhören, bevor sie sich verschließen. Und wir können an ihrer Seite bleiben, damit sie spüren, dass sie nicht alleine sind.
Denn oft ist das, was Kinder am meisten brauchen, etwas ganz Simples: Jemanden, der da ist und der sie liebt, bedingungslos. Und so werden unsere Mädchen zu starken, selbstbewussten Frauen und unsere Jungs zu starken, selbstbewussten Männern, die ihre Gefühle mit Worten kommunizieren können und mit allen Herausforderungen des Lebens fertigwerden, ohne anderen zu schaden. Das wird nicht nur unsere Kinder zu ausgeglichenen und erfolgreichen Erwachsenen machen, sondern auch unsere Welt zu einem glücklicheren und friedlichen Ort.
Wenn euch dieser Beitrag berührt hat, teilt ihn gern. Vielleicht erreicht er jemanden, der gerade merkt, dass er wieder mehr hinhören sollte. Oder jemanden, der denkt, er sei allein – und das nicht ist.