In der letzten Etappe meiner "Reise zum Kind" hatte ich ja gerade einen Platz in einem der Wiener Kindergärten ergattert. Falls ihr erst jetzt einsteigt, könnt ihr hier nachlesen.
Ich hatte wirklich Glück gehabt, denn der Kindergarten hatte gerade neu eröffnet und noch ein paar Plätze frei. Schon kurz nach meinem Anruf hatten wir unseren ersten Kennenlerntermin. Falls ihr euch noch nicht mit Kindergärten auskennt: meistens macht man erst einmal einen solchen Termin zum gegenseitigen Beschnuppern und anschließend folgt, wenn alles passt, eine Eingewöhnungsphase. In dieser Phase besucht das Kind anfangs nur für eine oder zwei Stunden den Kindergarten und die Dauer wird peu à peu gesteigert.
Der große Tag - ein voller Erfolg
Ich hatte meine Tochter vorbereitet auf den Kennenlerntermin und positiv auf den Kindergartenbesuch eingestimmt. Sie war an dem Tag also bereit und schick angezogen, die Schuhe hatte sie auch schon an den Füßen und dann.... ist sie prompt auf dem Sofa eingeschlafen 🙈. Zum Glück hatte die Leiterin des Kindergartens Verständnis und sagte mir am Telefon zu, wir könnten auch noch kommen, wenn sie wieder aufgewacht sei.
Als wir es endlich zum Kindergarten geschafft hatten, der idealerweise nur 15 Minuten zu Fuß von unserer Wohnung entfernt war, fühlte sich meine Tochter dort sofort wohl. Während wir Erwachsenen die Formalitäten besprachen und Formulare ausfüllten, spielte Sally schon ganz fröhlich mit zwei anderen Mädels, Vivi und Sarah, die ihre besten Freundinnen werden sollten.
Wie ihr euch denken könnt, war nach diesem grandiosen Start die Eingewöhnungsphase gar kein Problem. Darüber war ich sehr erleichtert, denn ich musste ja bald wieder ins Büro zurückkehren. Zwar waren es nur 6 Stunden pro Tag aber diese Stunden musste meine Tochter unbedingt gut untergebracht sein. An manchen Tagen bat mich meine Tochter beim Abholen um 15 Uhr, noch länger bleiben zu dürfen. Dann machte ich einen kleinen Schaufensterbummel oder erledigte meine Einkäufe und holte Sally auf dem Rückweg ab.
Im Großen und Ganzen war ich sehr zufrieden mit dem Kindergarten, ich war anfangs sehr dankbar für den Kindergartenplatz und fand auch das Konzept sehr schön. In Wien haben wir grundsätzlich das Glück, dass städtische Kindergärten gratis sind. Allerdings sind die Plätze sehr gefragt, wie ich auch bemerken musste. Bei Privatkindergärten ist das natürlich nicht so und die monatlichen anfallenden Kosten können recht hoch werden. Dieser private Kindergarten vertrat jedoch die Philosophie, dass sie eine gute soziale Mischung erreichen wollten und daher moderate monatliche Kosten ansetzten.
Reibungspunkte
Die Reibungspunkte ergaben sich erst später im Laufe der Zeit, als nicht nur Sally sondern auch die Konflikte größer wurden. In der Rückschau würde ich wohl heute nicht mehr so offen mit Sallys Vorgeschichte gegenüber den Betreuerinnen umgehen bzw eventuell nicht gleich von Vornherein erwähnen, dass Sally meine Pflegetochter ist. Es war damals recht naiv von mir zu glauben, dass andere genauso offen und vorurteilsfrei mit der Geschichte umgehen würden. In diesem Kindergarten stieß ich zwar nicht auf so offen diskriminierende Aussagen, wie bei jener Leiterin eines anderen Kindergartens, die mir sagte, dass aus Sally aufgrund ihres Erbguts wohl nichts werden würde. Dennoch schwang im Hintergrund immer ihre Vorgeschichte mit und bei jedem Konflikt wurde diese als Begründung herangezogen.
Man versuchte mir einzureden, Sally habe kein normales Schmerzempfinden, weil sie nicht bei jedem blauen Fleck weinend zusammenbrach, sondern einfach weiterspielte. Dann hat man mich dazu überredet, Sally dringend in eine Therapie zu geben, um ihre angeblichen sensorischen Defizite aufzuholen. Ich musste sie manchmal früher abholen, weil die Kindergartenpädagogin sie angeblich nicht mehr kontrollieren konnte - als ich dann nach einem solchen Anruf wieder mal im Kindergarten ankam, saß sie ganz ruhig an einem Tisch und malte. All diese Vorkommnisse und Bemerkungen verunsicherten mich sehr. Sally war mein erstes und einziges Kind und ich hatte keinen direkten Vergleich, was in diesem Alter "normal" ist. Ich wollte natürlich das Allerbeste für meine Tochter und wollte auf keinen Fall, dass sie einmal Defizite aufgrund ihrer Vorgeschichte hat. Ich bin zwar überzeugt davon, dass die Therapien, die ich ihr angedeihen ließ, nicht geschadet haben. Sie hatte sehr viel Spaß im Bällebad oder auf der Schaukel im Therapieraum. Ich bin aber im Nachhinein nicht sicher, ob diese Therapien wirklich notwendig waren und ob sie meine Tochter tatsächlich weitergebracht haben. Ich hätte mir wahrscheinlich viel Organisationsstress, Sorgen und Geld ersparen können, wenn ich mit den Ansagen der Kindergartenpädagoginnen entspannter umgegangen wäre.
Völlige Transparenz ist nicht immer von Vorteil
Daher mein Appell an alle Pflegeeltern: überlegt euch gut, wem ihr die Vorgeschichte eures Kindes erzählt und, wenn ja, wieviel der Vorgeschichte ihr preisgebt. Muss euer Gegenüber wirklich alles über die Vorgeschichte eures Kindes wissen? Lasst euch nicht verunsichern durch Betreuerinnen eurer Kinder, sei es im Kindergarten, in der Schule oder der Nachmittagsbetreuung. Die meisten meinen es zwar gut mit euch und eurem Kind, aber die Empfehlungen sind nicht immer hilfreich. Ihr dürft durchaus Einschätzungen und "gut gemeinte" Ratschläge hinterfragen. Wenn ihr Zweifel habt, wendet euch an die für euch zuständigen SozialpädagogInnen beim Amt oder an andere Pflegeeltern. Vielleicht habt ihr einen Kreis von Eltern, mit denen ihr euch austauschen könnt. Das Amt in Wien organisiert regelmäßige Treffen, bei denen man mit anderen Pflegeeltern über seine Erfahrungen und Probleme sprechen kann.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass überforderte PädagogInnen schnell die Schuld an der stressigen Situation in der Vorgeschichte des Kindes suchen, um die Lösung des Problems von sich schieben zu können. Ich bin aber der Auffassung, dass die Konflikte, die im Kindergarten oder in der Schule entstehen, auch dort gelöst werden müssen. Mein Kind verhält sich naturgemäß zu Hause ganz anders als in der Gruppe, daher kann ich das Problem auch nicht zu Hause lösen, weil es dort nicht entsteht. Umgekehrt gilt dasselbe. Die Probleme, die zu Hause entstehen, müssen auch von der Familie gelöst werden.
Eskalation
Als Sally schließlich 5 Jahre alt war und eigentlich schon fast schulreif, eskalierte der Konflikt mit dem Kindergarten Nun musste sogar unsere Kontaktperson beim Jugendamt einschreiten, da Sally und ich nur noch drangsaliert wurden. Unsere zuständige Sozialpädagogin hat mich sehr unterstützt und mit der Kindergartenleitung ein Gespräch geführt, weil ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Mir wurde unter Anderem gesagt, Sally sei eine Gefahr für sich und andere und ich müsse dringend etwas unternehmen. Man könne ihre weitere Betreuung nicht mehr sicherstellen, wenn sich die Situation nicht bessere. Es stellte sich heraus, dass meine Tochter schlicht und einfach völlig unterfordert war, weil der Kindergarten keine Vorschulgruppe hatte und die Betreuerinnen den ganzen Tag mit den vielen Babys und Kleinkindern beschäftigt waren, so dass keine Zeit mehr für eine Vorschulgruppe blieb. Den wenigen großen Kindern war so langweilig, dass ihnen naturgemäß nur Unfug einfiel.
Da diese Situation vor allem für meine Tochter sehr unangenehm wurde und sich die Gelegenheit ergab, wechselte meine Tochter in eine Vorschule, in der sie endlich mit einem vernünftigen Programm gefördert wurde. In kürzester Zeit konnte sie sogar schon mit den Betreuern auf Englisch kommunizieren und blühte in der neuen Umgebung auf.
Ich sage nicht, dass Sally ein einfaches Kind war. Sie hatte natürlich ihr Päckchen zu tragen. Sie war mit Sicherheit viel temperamentvoller als andere Kinder und kein "pflegeleichtes" Kind, das sich den ganzen Tag alleine still beschäftigt. Ein türkischer Freund von uns sagte einmal achselzuckend, als ich mich entschuldigte, weil Sally in dem Moment recht lebhaft herumsprang: "That's normal. She is a Turkish style kid."🤣 Er war von ihrem Temperament völlig unbeeindruckt und fand Sally toll. Außerdem hatte sie immer schon einen starken Bewegungsdrang und wollte die Welt entdecken, jetzt da sie endlich die Gelegenheit dazu hatte.
Nach der Anpassungsphase geht es richtig los
Bei Pflegekindern ist es auch häufig so, dass sie sehr anpassungsfähig sind. Das bedeutet, dass sie, wenn sie in eine neue Umgebung kommen, sich zunächst anpassen und extrem pflegeleicht sind. Sobald sie sich in der neuen Umgebung, in der neuen Familie, im neuen Kindergarten wohlfühlen, beginnen sie, die neuen Bezugspersonen zu testen. Sie fallen in gewohnte Verhaltensmuster zurück, um beim Gegenüber die bisher gewohnten Reaktionen hervorzurufen, die sie in der Ursprungsfamilie erlebt haben (zB physische oder psychische Gewalt, Anschreien, etc.). So gut Sally also in den ersten Wochen "funktionierte", änderte sich dies sobald sie sich bei mir und im Kindergarten eingelebt hatte.
Dann beginnt die sogenannte "Übertragungsphase". Während dieser Phase arbeitet das Pflegekind seine Erfahrungen mit den leiblichen Eltern ab. Es zeigt immer wieder Verhaltensweisen, die nicht zur aktuellen Situation passen oder die völlig überzogen scheinen. Man hat den Eindruck, dass das Kind im Gegensatz zur reibungsfreien Eingewöhnungszeit, Rückschritte in seiner Eingewöhnung macht.
Diese Phase war eine recht schwierige Zeit für mich. Das Verhalten meiner Tochter brachte mich teilweise so in Rage, dass ich Angst hatte, die Kontrolle zu verlieren. Ich erkannte mich selbst nicht mehr wieder und war regelrecht erschrocken vor meinen plötzlichen Wutgefühlen. Erst als ich nachgelesen hatte, dass sie auf diese Weise versucht, die Reaktion zu provozieren, die sie bisher kannte, konnte ich meine Gefühle richtig einordnen und danach besser damit umgehen. Ich verstand, dass meine Tochter damit unbewusst testen wollte, ob ich sie so akzeptiere, wie sie ist und ob sie trotz ihres Verhaltens bei mir bleiben darf.
Ich versuchte also, mit ihren unbewussten Provokationen anders umzugehen, um die Situation zu entschärfen. So wurde Vieles leichter. Ich änderte meine Reaktion, versuchte ihren Wutanfällen mal mit Gelassenheit, mit Humor oder Liebe zu begegnen und sie zu überraschen. Einmal schrie und weinte sie ohne erkennbaren Auslöser, lag auf dem Rücken auf dem Zimmerfußboden und starrte an die Decke. Da legte ich mich daneben, starrte auch an die Zimmerdecke und fragte sie, was sie denn da oben so Schreckliches sehe. Meine Reaktion hat sie so verblüfft, dass sie aufhörte zu weinen, und wir beide über die Situation lachen konnten.
Nach einiger Zeit wurden diese Episoden immer seltener und meine Tochter wurde zu dem wunderbaren Wesen, das sie heute ist.
Buchtipps
Zum Thema kann ich euch zwei Bücher empfehlen:
Praxisbuch Pflegekind: Informationen und Tipps für Pflegeeltern und Fachkräfte von Alice Ebel
Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben von Irmela Wiemann
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