Wieviel Mitspracherecht sollte ein Kind haben?
- Vampirndl

- 8. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Sept.
Zwischen Mitspracherecht, Selbstbestimmung und „König Kind“

Es ist eine Szene, die wahrscheinlich fast jede Familie kennt:
Beim Abendessen gibt es Diskussionen. "Ich mag aber keine Erbsen“, ruft das Kind. Bisher hat es aber Erbsenreis immer gern gegessen... Soll man nachgeben? Oder soll das Kind lernen, dass nicht immer alles nach seinem Kopf geht?
Hier taucht eine der großen Fragen der Erziehung auf: Wieviel Mitspracherecht sollte ein Kind haben – und wo endet die Grenze?
Ein Blick zurück: Früher war Gehorsam Pflicht
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Antwort im deutschsprachigen Raum ziemlich klar: Kinder haben zu gehorchen. In der Nachkriegszeit galt das Ideal des „braven Kindes“. Eltern bestimmten, Lehrer bestimmten, die Erwachsenenwelt gab die Richtung vor. Ganz nach dem Grundsatz - "Ein Kind darf man sehen, aber nicht hören."
Die Reformpädagogik (Maria Montessori, Rudolf Steiner, Alexander Neill mit Summerhill) stellte dieses Weltbild erstmals infrage: „Hilf mir, es selbst zu tun“, forderte Montessori. Kinder sollten als eigenständige Persönlichkeiten gesehen werden – nicht als kleine Erwachsene, die geformt werden.
Mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 kam schließlich ein Meilenstein: Kinder haben offiziell das Recht, gehört zu werden und ihre Meinung zu äußern – natürlich altersgerecht. Seitdem ist klar: Partizipation ist kein Luxus, sondern ein Kinderrecht.
Kulturvergleich: Wie machen es andere?
Die jüdische Tradition
In vielen jüdischen Familien gehört das Diskutieren und Fragenstellen zur Kultur. Die Tora und der Talmud leben vom Chavruta – dem Studieren im Dialog, vom Hinterfragen und vom Ringen um Antworten. Kinder lernen früh: Fragen zu stellen ist keine Respektlosigkeit, sondern gelebte Tradition.
Die USA: Debatte als Teil der Kultur
Auch wenn wir die USA momentan global eher kritisch betrachten, können wir doch auch Positives mitnehmen. Amerikanische Schulen und Universitäten sind bekannt für ihre Debattierclubs. Schüler lernen schon früh, ihre Meinung zu vertreten, Argumente zu strukturieren und anderen zu widersprechen – mit Respekt, aber auch mit Selbstbewusstsein. Sie lernen, sowohl die Pro als auch die Contra Seite zu vertreten. In vielen amerikanischen Familien ist es normal, dass Kinder eine klare Stimme haben. Manchmal wirkt das auf uns im deutschsprachigen Raum fast „vorlaut“.
Der deutschsprachige Raum
Hier schwanken wir oft zwischen zwei Polen:
Einerseits der alte Gedanke vom „braven Kind“ – noch immer tief in manchen Köpfen verankert.
Andererseits der Wunsch nach demokratischer Erziehung, in der Kinder mitreden dürfen.
Das Ergebnis ist oft Unsicherheit: „Muss ich meinem Kind immer alles erklären? Darf ich noch einfach bestimmen? Oder laufe ich Gefahr, ein verwöhntes ‚König Kind‘ zu erziehen?“
Meine persönliche Erfahrung: Viel Mitsprache – viel Erklärungen
Ich habe meine Tochter mit sehr viel Mitspracherecht erzogen. Für mich war es immer wichtig, dass sie ihre Meinung äußern durfte und dass ich ihr erkläre, warum ich Entscheidungen treffe. Ich wollte nicht einfach über ihren Kopf hinweg bestimmen, sondern sie ernst nehmen. Meine Überzeugung ist es, dass Kinder Entscheidungen leichter akzeptieren, wenn man ihnen erklärt, warum man diese trifft.
Das führte allerdings nicht immer zu Verständnis in meinem Umfeld. Familie, Freunde, andere Eltern haben manchmal irritiert reagiert: „Warum lässt du sie so viel reden? Warum diskutierst du so viel mit ihr? Ein Kind muss doch einfach mal machen, was man sagt.“
Und ja – es hat auch Situationen gegeben, die nicht nur angenehm waren. Zum Beispiel, wenn ich nein gesagt habe, und sie – weil sie es so gewohnt war – vor anderen unbedingt eine Erklärung wollte. Für sie war klar: „Mama sagt nie einfach nein, Mama erklärt.“ Für mich war es manchmal schwierig, in der Öffentlichkeit in eine Grundsatzdiskussion zu geraten.
Ich habe ihr dann erklärt: Ein Nein ist manchmal einfach ein Nein.
Und dass ich ihr sehr gerne später, wenn wir alleine sind, in Ruhe erkläre, warum ich in dem Moment Nein gesagt habe. So konnte ich beides wahren: ihre Gewohnheit, ernst genommen zu werden – und gleichzeitig die Klarheit, dass Eltern nicht immer sofort Rechenschaft ablegen müssen.
Die Psychologie: Warum Mitsprache so wichtig ist
Kinder, die erleben, dass ihre Meinung zählt, entwickeln Selbstwirksamkeit. Das bedeutet: Sie fühlen, dass ihr Handeln etwas bewirken kann. Das ist ein wichtiger Baustein für Selbstbewusstsein, Verantwortungsgefühl und auch Resilienz.
Aber: Zu viel Mitsprache überfordert Kinder. Wenn sie in Bereichen entscheiden sollen, die ihre Kompetenz überschreiten (z. B. Finanzen, Urlaubsziele, medizinische Fragen), entsteht Unsicherheit. Kinder wollen und brauchen Orientierung und sie müssen lernen, dass man als Kind - und später als Erwachsener - nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten. Und dass die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse nicht auf Kosten anderer geschehen darf.
Alltagssituationen: Wo Mitsprache passt – und wo nicht
Kleidung:
Ein Vierjähriger darf entscheiden, ob er die rote oder die blaue Jacke trägt. Aber er entscheidet nicht, ob er im Winter ohne Jacke rausgeht.
Essen:
Kinder dürfen mitbestimmen, was einmal pro Woche gekocht wird. Aber Eltern sorgen für eine ausgewogene Ernährung und entscheiden, dass Süßigkeiten nicht das Hauptgericht sind.
Freizeitgestaltung:
Ein Zehnjähriges Kind darf sagen: „Ich möchte lieber Fußball statt Ballett machen.“ Aber es sollte nicht allein entscheiden, ob es jede Woche drei neue Hobbys ausprobiert.
Familienentscheidungen:
Bei der Urlaubsplanung können Kinder Vorschläge einbringen („Ich will ans Meer!“). Am Ende wägen die Eltern aber Kosten, Zeit und Bedürfnisse aller ab.
Jugendliche:
Ab dem Teenageralter ist Mitsprache besonders wichtig. Hier geht es um echte Mitentscheidung: Welche Schule passt? Wie viel Taschengeld ist realistisch? Gleichzeitig gilt: Eltern bleiben verantwortlich, gerade bei Fragen wie Sicherheit oder Gesundheit.
Die Gefahr des „König Kind“
Das Kind bestimmt, was die Familie isst, wohin sie in den Urlaub fährt und wann ins Bett gegangen wird. Die Eltern passen sich an – und das Kind wächst mit dem Gefühl auf, dass die Welt sich nach ihm dreht.
Das klingt erst mal nach Freiheit, aber in Wahrheit ist es eine Bürde: Kinder, die zu viel Verantwortung tragen, sind oft überfordert. Sie fühlen sich nicht gehalten, sondern im Stich gelassen. Führungslosigkeit ist für ein Kind genauso belastend wie ein autoritäres Regiment.
Die Balance finden
Kinder brauchen eine Stimme, aber nicht die letzte Stimme.
Das gesunde Maß liegt darin, dass sie altersgerechte Entscheidungen treffen dürfen, innerhalb klarer Grenzen. Eltern sind Wegweiser – aber sie sind nicht Diktatoren. Sie sind Begleiter – aber auch keine Untertanen.
Fazit: Mitsprache ist gut – aber Kinder brauchen Eltern, die letztlich den Rahmen setzen.
Ich glaube, dass Kinder, die Mitsprache erfahren, nicht automatisch verwöhnt werden – sondern lernen, dass ihre Stimme zählt. Gleichzeitig lernen sie, dass Entscheidungen manchmal komplex sind und dass Erwachsene den Überblick behalten.
Vor kurzem hat meine Tochter, inzwischen fast erwachsen, etwas sehr Berührendes zu mir gesagt: „Bitte triff du diese Entscheidung – das überfordert mich, du bist ja schließlich die Mama.“
Dieser Satz hat mir gezeigt: Sie kann unterscheiden, wann sie selbst die Verantwortung tragen möchte – und wann sie froh ist, dass ich ihr Halt gebe. Genau das ist für mich der Beweis, dass Mitsprache und klare Grenzen kein Widerspruch sind. Sondern dass Kinder in einem sicheren Rahmen lernen dürfen, was Selbstbestimmung heißt – und dass sie trotzdem immer auf die Stärke ihrer Eltern vertrauen können.




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