Wieviel Hippie sollten wir heutzutage noch in unsere Erziehung hineinchanneln?
Antiautoritäre Erziehung - bei diesem Schlagwort verdrehen viele von uns wahrscheinlich die Augen. Wir denken an ein Kind, das König ist, seinen Namen tanzt und ansonsten unfähig ist, in der harten Realität zu bestehen. Aber ist das wirklich alles? Tut man diesem Erziehungsstil damit nicht unrecht? Wäre es nicht gerade in der heutigen Zeit angebracht, in der ein Mangel an Soft Skills und Empathie beklagt wird und in der autoritäre Regime wieder mehr Zulauf bekommen, den Gefühlen unserer Kinder wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Wäre es nicht besser, ihnen Zeit und Liebe zu schenken, anstatt immer größeren Leistungsdruck aufzubauen, der Kreativität und freie Entfaltung erstickt?
Entstehung der Bewegung
Bei der antiautoritären Erziehung handelt es sich nicht um einen Erziehungsstil im engeren Sinne, sondern um ein Bündel an Erziehungskonzepten, die sich als Gegenbewegung zum autoritären Erziehungsstil, der bis in die 1960-1970er Jahre praktiziert wurde. Damals war körperliche Bestrafung von Kindern üblich und wurde nicht nur im Elternhaus, sondern auch in den Schulen praktiziert. Kinder sollten im Idealfall nicht gesehen und nicht gehört werden und sich den Erwachsenen unterordnen. Ihre Meinung wurde nicht gehört und auf ihre eigene Persönlichkeit keine Rücksicht genommen. Verständlich also, dass sich im Laufe der Zeit eine Gegenbewegung gebildet hat, die im Zuge der 68-er Bewegung ihren Höhepunkt erlebte. Reformpädagog:innen wie zB Maria Montessori waren der Auffassung, dass der Mensch von Natur aus gut sei und dass sich Kindern frei entfalten müssten ohne Einmischung von Erwachsenen. Aus dieser Auffassung heraus entstanden in Deutschland alternative Kindergärten (Kinderläden) und alternative Schulformen (zB Glocksee Schulen) mit eigenem Curriculum.
Kritik an der antiautoritären Erziehung
Ich kann verstehen, dass junge Eltern der 68-er Generation genug hatten von der Unterdrückung und der Gewalt in der Erziehung. Sie wollten es schlicht besser machen als ihre Eltern und Großeltern. Ist es nicht immer so, dass man sich vornimmt, "die Fehler" der Eltern in der Erziehung der eigenen Kinder auf keinen Fall machen zu wollen?
Leider ist es mit der antiautoritären Erziehung so wie bei den meisten Gegenbewegungen - sie schießen über das Ziel hinaus und erreichen oft das gegenüberliegende Extrem. Während antiautoritär erzogene Kinder auf Augenhöhe mit den Erwachsenen umgehen dürfen, gehört werden, eigene Entscheidungen treffen dürfen und nicht bestraft oder gemaßregelt werden, so werden sie häufig egoistisch, haben Schwierigkeiten, sich an gesellschaftliche Regeln zu halten und können ihre Gefühlswelt sehr schlecht oder gar nicht selbst regulieren. Häufig tun sie sich schwer im Umgang mit anderen Kindern und zeigen fehlende Empathie.
Jesper Juul, ein dänischer Familientherapeut, kritisierte vor allem, dass in der antiautoritären Erziehung eine Verschiebung der pädagogischen Verantwortung zu Lasten der Kinder stattgefunden habe.
Der goldene Mittelweg
Die 68-er sind lange vorbei und zum Glück sind wir auch erziehungstechnisch nicht in die Zeit davor zurückgefallen. Gewalt gegenüber Kindern ist mittlerweile zum Glück auch gesetzlich verboten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass wir uns schwertun, den goldenen Mittelweg zwischen "Freiheit gewähren" und "Grenzen setzen" in der Erziehung zu finden.
Jesper Juul hat in seinem Buch "Dein kompetentes Kind" (in späterer Fassung auch "Das kompetente Kind") gute Hinweise darauf gegeben, wie das funktionieren kann. Er ist der Auffassung, dass ein Kind von seiner Geburt an seine eigene Persönlichkeit hat und mit allem ausgestattet ist, was es als Mensch ausmacht. Verhalten muss also dem Kind nicht durch Erziehung beigebracht werden, sondern das Kind lernt, sich durch Nachmachen, durch Imitieren, des Verhaltens seiner Eltern oder der Erwachsenen in seiner Umgebung zu verhalten.
Gleichwürdigkeit
Gleichwürdigkeit bedeutet, dass sich Eltern und Kinder auf gleicher Ebene begegnen und dass die Bedürfnisse, Wünsche und Meinungen der Kinder genauso ernst genommen werden wie jene der Erwachsenen. Das heißt, dass sowohl den Bedürfnissen der Eltern, als auch jenen der Kinder, Beachtung geschenkt werden muss und so die Voraussetzungen für ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander geschaffen werden. Wenn das Kind klein ist, leiten die Eltern ihr Kind an, weil sie über die nötige Lebenserfahrung und Kompetenz dafür verfügen. Wenn die Kinder älter werden, geben die Eltern nach und nach diese Führung an die Kinder ab, so lange bis diese selbständig zurechtkommen.
So entwickelt sich das kompetente Kind mit der Zeit zu einem kompetenten Erwachsenen, ganz ohne Gewalt und Unterdrückung, aber auch nicht ganz ohne Regeln und Verantwortungsübernahme. Ein erwachsener Mensch, der sein Leben meistert und anderen mit Respekt und Empathie begegnet.
Buchempfehlung: Jesper Juul: Dein kompetentes Kind
PS: ich bin ein großer Fan von Jesper Juul, der leider schon verstorben ist. Ich kann auch sein Buch zum Thema Pubertät wärmstens empfehlen!
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